„Jakob, wir haben einen Deal, du und ich. Du hast gesagt, es muss raus aus dir, muss erzählt werden. Bevor dir der Schädel zerberstet. Weil es in dir nur schreit und weil es dich zerbricht und umbringt. Jeden Tag und lautlos brüllend. Dass du daran sterben wirst, weil er nicht mehr lebt.
„Jakob?“
Leise schließt sie die Tür hinter sich und bleibt im Raum stehen. Plötzlich ist er wieder dagewesen, vor knapp einem Jahr. Wortlos und mit einem Blick, der ihm ohne weiter nachfragen zu müssen die Türe zu seinem alten Zimmer öffnete. Seine Zuflucht, sein Schutzraum. So etwas wie ein meterhoher aus massivem Stein errichteter Turm, nur für ihn gebaut und sicher vor der Angst. Vor da draußen. Und wie mutig und zuversichtlich er sich anfühlte, als er damals vor ihr stand, vor fast einem Vierteljahrhundert und beinah jungenhaft unschuldig verkündete, dass da irgendwas ziemlich irritierend Peng mit Liebe läuft und dass sein Herz immer dahinschlagen will, wo das mit der Liebe gerade läuft. Und das mit der Sehnsucht danach täte viel weher als die Angst. Vor da draußen. Dann war er weg. Vierundzwanzig Jahre. Weil das mit der Liebe stärker war.
Sie stoppt ihre Gedanken und schaut zu ihm herüber. Natürlich sitzt er dort. Wie immer. Wortlos. Und still. Zusammengesunken, in seinen Gedanken und dort auf der knorrigen alten Bank direkt unter dem Fenster. Doch, sie findet, dass er schon friedlicher wirkt. Seine Züge, entspannter als noch vor wenigen Monaten und trotz dem dort jede einzelne Sekunde, jede Träne des letzten Jahres eingefurcht ist. Ein, zwei Schritte, sie sieht, dass er nicht schläft.
„Jakob? Komm, ich seh‘ dich blinzeln. Schau mich an!“
Seine Decken, unter denen er sich vergraben hat, rutschen auf den Boden als er sich schnaufend umdreht und nur ein krächzendes „Ich will nicht!“ für sie übrig hat. Sie hebt die Decken auf und setzt sich zu ihm.
„Jakob, wir haben einen Deal, du und ich. Du hast gesagt, es muss raus aus dir, muss erzählt werden. Bevor dir der Schädel zerberstet. Weil es in dir nur schreit und weil es dich zerbricht und umbringt. Jeden Tag und lautlos brüllend. Dass du daran sterben wirst, weil er nicht mehr lebt. Wenn du damit nicht deinen Frieden finden kannst. Und dass du schon mal so etwas wie Frieden gefunden hast, weil du von den Dingen erzählen konntest, die dich zeitlebens gequält haben. Dass das Leben leichter ist, wenn man etwas behutsam auf seine Reise schicken kann. Oder Jemanden. Wenn es sein muss. Das hast du gesagt, Jakob.“
Forsch legt sie ihm die Decken auf seine Beine und lächelt ihn an, wie sie ihn immer angelächelt hat, wenn er sich so verloren fühlte. Und hilflos. Jakob guckt aus den Augenwinkeln zu ihr rüber.
„Ich weiß.“
Er setzt sich auf und greift zu dem, was seit diesem kalten Januartag wenigstens für ein paar Stunden das quälende Pochen und Brennen in seiner Brust lähmt und seine Gedanken, seine Gefühle friedlicher sein lässt. Wenn es dunkel wird und niemand mehr fragt, wann er ins Bett kommt. Wenn er hier sein kann, alleine und nur mit seinen Bildern und Erinnerungen. Und sich jeden Tag an das versucht heranzutasten, was passiert ist. Um es endlich zu sortieren. Jakob kann keine Sekunde erklären, sie erzählen. Was passiert ist, und wie. Sie sind da, diese abermillionen Sekunden. Seitdem. Und sie treiben ihn in den Wahnsinn. Er treibt sich in den Wahnsinn. Weil er nicht stehen bleiben kann. Jakob rennt. Er rennt und rennt von der ersten Sekunde an. Erschüttert in allem, was er mal war, was mal war. Zerbrochen an dem, was ihn so rennen lässt. Zerbrochen. An dieser ersten Sekunde.
Und da will sie, dass ich darüber rede? Jakob zieht genüsslich an seiner Tüte und guckt sie provozierend an. Er weiß, dass sie das nicht mag. Aber ihr ist es lieber, als dass er einmal zwei Flaschen Schnaps in sich rein schüttet und mit Gebrüll gegen einen Brückenpfeiler knallt. Sie will seine Geschichte hören, will wissen wie er es erlebt hat und jetzt damit versucht, zurecht zu kommen. Sie will ihm zuhören, damit er wieder ein bisschen Er sein kann, irgendwann vielleicht. Und alleine weitergehen kann. Jakob weiß das. Er weiß, dass es gut ist, loszulassen. Es endlich verarbeiten zu können. Langsam und friedlich. Aber es ist so grausam viel. Nach fast 24 Jahren und plötzlich alles auf 0. Es ist die Null, die Jakob so quält. Wie kann eine Null nur so Vieles bedeuten? Und so verdammt weh tun? Eine Null können Niewieders oder Erstemalohnedichs bedeuten, eine Null kann bedeuten, dass man auf sich und seine Gesundheit scheißt und wieder raucht wie ein Schlot. Dass es scheißegal ist, ob man nur noch auf der Couch und seit vielen Sonnenaufgängen nur ein paar Stunden so was ähnliches wie geschlafen hat, und wenn überhaupt nur isst, was die Fertigindustrie schnell in den Rachen schmeißt, weil das Kochen fad und einsam geworden ist. Und genauso so brutal weh tut, wie das Meiste, das mit all dem wir nichts mehr zu tun hat und trotzdem immer wieder von irgendwo her geschossen kommt und auf die Zwölf gibt, weil ein Jahr danach ohne ihn nichts dagegen ist, was fast Vierundzwanzig mit ihm waren. Und doch ein Jahr ist, mit seiner Null, dieser erste Sekunde, so mächtiger als alles und so elend still. Und so laut. Irgendwann werden Erinnerungen das Schönste sein, was geblieben ist. Das hört Jakob immer wieder. Bestimmt ist das auch so. Aber noch ist es schlimmste Qual nur daran zu denken. Erinnerungen. Das Wehtun hat ihn so müde gemacht.
„Jakob??“
Verdutzt schreckt Jakob aus seinen Gedankenschrotkügelchen auf und guckt sie an.
„Du willst das wirklich, ja?“
„Nein, Jakob, du willst das. Ich höre zu. Das ist unser Deal.“
Wieder lächelt sie dieses Lächeln, was ihn und wenn auch nur für einen Moment aus seiner Verlorenheit, seiner Zerrissenheit rausholt. Jedes Mal, wenn sie das tut und was von ihm will. Jakob verkneift sich ein Lächeln und fixiert sie ablehnend.
„Was hälst du davon, wenn wir ein Weilchen spazieren gehen? Es riecht nass und erdig, das macht den Kopf wieder frischer. Danach Kaffee und Appeltaart bei den Nachbarn? Jakob, ja?“
Seit Wochen spürt er, dass er aus dem Chaos raus will, da in ihm. Dass Jakob niemals wieder mit „professionellen“ Leuten über sein Innerstes reden kann, war klar für ihn. Aber ohne irgendwas vergleichbar erleichterndes, wird ihn dieser riesengroße Bottich voller brodelnd emotionaler Erinnerungen jeden Tag ein bisschen mehr zerbrechen. Weil er sich verschlossen hat, hier, in seinem Turm. Mit allem und gar nichts. Und weiter rennt. Seit Wochen reden sie beide darüber wie es wäre, wenn er alles einfach aufschreibt. Oder erzählt. Und dass er doch schon gelernt hat, dass es helfen kann. Nicht zu verzweifeln und doch noch durchzuknallen. Weil’s so brutal ist. Da in dem kochenden Bottich in seiner Brust. Jakob schnappt nach seiner Joppe und seiner Mütze und lässt wieder nicht mehr als einen Augenwinkelblick in ihre Richtung zu.
„Jakob?!?“
„Wäre es ok, wenn du lesen statt hören würdest?“ Wenn? Und irgendwann? Und lieber Pommes mit Frikandel Speziaal nachher bei den Nachbarn? Deal?“
„Deal.“
