Klara & Paul
Klara & Paul

Klara & Paul

„Liebe, Glaube, Hoffnung“

Liebe.

So friedlich und still, wie sie da lag. Paul betrachtete ihr entspanntes Gesicht, das plötzlich wieder die weichen, zarten Züge bekommen hatte, in die er sich vor mehr als dreißig Jahren rettungslos verliebte. Klara war sicher keine Schönheit im klassischen Sinne gewesen, aber sie hatte mit ihren veilchenblauen Augen, die ihn von Beginn an faszinierend anblitzten, mit diesem charmanten, gewinnenden Lachen und dieser ganz besonderen Ausstrahlung sein Herz im Sturm erobert. Damals, als sie beide sich wie zufällig in dem kleinen Bahnhofs-Café begegnet sind. Zwei Reisende mit unterschiedlichen Zielen, zwei Menschen, die vom ersten Augenblick an spürten, dass sie fortan ein gemeinsames Ziel haben würden, so elektrisierend und magisch erschien ihnen ihre erste, kurze Begegnung. Damals vor so unendlich langer Zeit. In diesem Café.

Klara sah entzückend aus in ihrem schlichten, cremefarbenen Kostüm und den Maiglöckchen, die ihr hellblondes, hochgestecktes Haar zierten, als sie beide sich das Ja-Wort gaben und verliebt lachend das Standesamt verließen um von nun an zusammen auf eine Reise zu gehen, von der Paul hoffte, dass sie niemals zu Ende gehen würde, so sehr liebte er sie. Glücklich sind sie gewesen, die ersten Jahre, er und Klara. Sich einig gewesen, dass sie keine Kinder haben wollten, dass Paul in seinem Beruf als Deutsch- und Geschichtslehrer ebenso vollends aufblühte, wie sie in ihrem als Vorstandssekretärin eines mittelständischen, soliden Unternehmens und dass sie ihre Freizeit lieber miteinander und für sich alleine verbringen wollten. Schön waren sie, die Abende zu Zweit, die Klara und Paul gerne und oft in ihrem gemütlichen und geschmackvollen Zuhause verbrachten. Mit anregenden Gesprächen und einer guten Flasche Wein. Oder wenn sie ins Kino gingen, und ganz nah und Hand in Hand beieinander saßen und in die Geschichte, die Bilder des Films eintauchten, den sie beide sich bei ihrer Vorliebe für tragisch-romantische Erzählungen ausgesucht hatten und jedes mal, wenn Klara ein paar Tränen der Rührung über die Wangen liefen, wenn es für die Helden des Films ein Happy End gab, liebte Paul sie ein bisschen mehr. Sie, die in ihrem Job so resolut und ehrgeizig, und in seinen Armen zart und zerbrechlich war.

„Liebst du mich?“ hatte Klara ihn so oft in ihren Nächten gefragt, mit bittend fragenden Augen, in denen er dann immer ein flackerndes Flehen nach der einzig wahren Antwort zu erkennen glaubte, der Antwort seines innigsten, aufrichtigsten Ja’s, das er ihr nur zu entgegnen vermochte. Ja, er liebte sie von ganzem Herzen und manchmal fragte Paul sich irritiert, ob sie das denn nicht spürte und weshalb sie sich immer wieder seiner Liebe zu ihr so unsicher war, wie Klara auch nur eine Sekunde daran zweifeln konnte. Dann nahm er sie zärtlich in seine Arme und wärmte ihre Zweifel hinweg, küsste und liebkoste sie, bis sie mit einem zufriedenen, fast kindlichen Lächeln eingeschlafen war. Damals, als sie noch glücklich waren.

Als Pauls Augen den Linien ihrer jetzt so friedlich anmutenden Gesichtszügen folgte und die er für so lange Zeit geliebt hatte, fragte er sich wann es eigentlich begann aufzuhören, dieses „Glück“. Wann er aufgehört hatte, mit ihr glücklich zu sein. Und warum. Und es war, als würden die Tropfen aus dem Hahn, die wie eine tickende Uhr ihren Weg in ihr inzwischen erkaltetes Badewasser fanden, Zeichen für den Moment, für die Zeit sein, an dem das Glück Stück für Stück ins Nichts zerfiel und dem Platz machte, was dann geschah. Stück für Stück. Müde fuhr Paul sich durchs graumelierte Haar und drehte den Wasserhahn zu. Er brauchte das tickende Geräusch der Tropfen nicht.

Um sich zu erinnern…

Klara

Glaube.

Sie waren bereits seit knapp zehn Jahren verheiratet, hatten alles um zufrieden leben zu können. Nichts von dem hatte nachgelassen, was Klara und Paul von Beginn an verband. Im Gegenteil. Manchmal meinte er in dieser Liebe, in diesem gemeinsamen Glück zu ertrinken, so sehr fühlten sich die beiden miteinander verbunden, so tief war ihr beider Verständnis füreinander. Besonders, wenn Klara ihn mit ihren so intensiv blauen Augen anstrahlte und sich ihre Liebe zu ihm darin widerspiegelte, und in denen er plötzlich Schatten entdeckte, die er nicht zu deuten wusste und die doch ein Vorzeichen, eine Warnung dessen waren, was dann geschah. An diesem Tag vor mehr als zwanzig Jahren. Paul hatte lange arbeiten müssen, kurz vor den Sommerferien, kurz vor den Abschlusszeugnissen und einer Konferenz der nächsten folgend, wie jedes Jahr vor den großen Ferien. Und wie so oft gönnte er sich mit einigen seiner Kolleginnen und Kollegen nach den anstrengenden Sitzungen noch ein paar entspannende Biere in der urigen Kneipe am Marktplatz des kleinen Städtchens, in dem sie beide lebten und arbeiteten. Alles war wie immer, nichts anders als sonst, als Paul am frühen Abend heim kam und mit einem freudigen Lächeln Klara in der Küche begrüßte, die dort das Essen vorbereitete. Und doch spürte er sofort, dass etwas anders, dass es ungewöhnlich war, dass sie ihn nicht anschaute, als er auf sie zukam um sie zu umarmen wie er es immer tat, wenn sie sich Abends nach einem arbeitsreichen Tag wieder sahen. Er und Klara.

„Klara?“

Sie reagierte nicht und stocherte mit dem hölzernen Kochlöffel in der vor sich hinbrodelnden Gemüsesuppe herum, die Paul besonders gerne aß und die niemand so wie Klara zubereiten konnte. Mit gesenktem Kopf stand sie da und sagte kein Wort. Paul registrierte ihre fest zusammengepressten Lippen, diesen Zug um ihren Mund, den er nie zuvor an ihr gesehen hatte und der ihm ein merkwürdiges Unbehagen bereitete. Gerade als er sie in den Arm nehmen wollte, drehte sie sich mit krächzend gurgelnden Lauten und einem Blick in ihren Augen, der ihn erstarren ließ, zu ihm herum und schlug Paul mit dem heißen Kochlöffel in sein entsetzt erstauntes Gesicht. Und als ob sich mit diesem einen Schlag eine grenzenlose, aufgestaute Wut entlud, prügelte Klara dem Irrsinn nahe kommend auf ihn ein und kreischte wie eine Furie zusammenhangloses Zeug, das schrill in seine Ohren drang und drohte, sein Trommelfell zu zerfetzen. So sehr Paul versuchte, ihre Arme festzuhalten, ihren brutalen Schlägen auszuweichen, umso mehr gelang es ihr ihn zu treffen, bis der Löffel zerbrach und eine tiefe Wunde quer durch sein Gesicht riss. Und plötzlich, als wäre das soeben Geschehene nur ein hässlicher, furchtbarer Albtraum gewesen, stand Klara regungslos vor ihm und starrte in sein lädiertes, stark blutendes Gesicht und brach im gleichen Moment mit einem Weinkrampf vor ihm zusammen. „Du hast mich betrogen, Paul. Warum, Paul?! Liebst du mich nicht mehr? Wer ist sie, diese Frau? Ich habe dich mit ihr gesehen, vorhin auf dem Marktplatz. Warum, Paul? Warum?!“ Klara kauerte auf dem Küchenboden, immer wieder ihre wimmernd anklagenden Worte wiederholend, von denen Paul nicht ein einziges verstand. Sein Kopf dröhnte schmerzend und er wusste nicht, wie ihm gerade geschehen war, wovon Klara da überhaupt sprach und was diesen für ihn unfassbaren Wutausbruch in ihr ausgelöst haben könnte. Sie, seine geliebte, so sanftmütige Klara hatte auf ihn eingeprügelt, wutverzerrt ihr Gesicht, mit einem Hass in ihren Augen, der ihn mit einem tief erschütterten Entsetzen vor ihr stehen ließ.

Die Tage danach waren von einer schon fast atemlosen Stille, in denen sie wortlos und mit verstohlenen Blicken umeinander herumschlichen, beide darauf bedacht, sich in der Wohnung so wenig wie möglich zu begegnen. Paul saß in dieser Nacht nach Klaras Attacke noch bis zum Morgengrauen in seinem Arbeitszimmer, nach dem er seine Wunden versorgt hatte und versuchte, seine rasenden Gedanken zu sortieren, die immer wieder bei einem schmerzenden „Warum“ endeten. Warum hatte sie das getan? Wie konnte ein Mensch wie Klara, die er bis zu diesem Moment glaubte mehr zu kennen, als sie sich selbst, so etwas furchtbares tun? Wie konnte sie solch eine Seite an ihr solange und unbemerkt von ihm verbergen? Natürlich hatte Paul sie nicht betrogen, niemals überhaupt in diese Richtung gedacht. Dafür liebte er sie viel zu sehr und war von tiefstem Herzen glücklich mit ihr. Was sie gesehen hatte, war nichts anderes als dass er eine neue Kollegin noch bis zu ihrem Auto begleitete, um sich dann auf dem Heimweg zu ihr zu machen. Zu Klara. Paul hörte ihre leisen Schritte, als er, wie seit Nächten schon, wach und wieder und wieder um eine Entscheidung ringend auf dem Sofa im Wohnzimmer lag und die Decke anstarrte, unfähig, wenigstens für mehr als zwei, drei Stunden erlösenden Schlaf zu finden, jetzt, so kurz vor den Abschlusszeugnissen. Er hörte ihr leise schluchzendes Weinen, ihr zitterndes „…es tut mir so leid, Paul, bitte verzeih mir“, sah im Dunkel der Nacht ihr blasses, verängstigtes Gesicht, ihre Augen die ihn flehend ansahen und um Verzeihung baten. Für das, was vor einigen Tagen geschehen war. In ihrer Küche. Nein, die Schläge hatten nicht seine Liebe zu ihr zerprügelt, das spürte Paul. Dafür war diese Liebe zu Klara zu tief. Verzeihen? Vielleicht sogar vergessen, was sie ihm angetan hatte, vor einigen Tagen? Paul hatte noch keine Antwort darauf gefunden. Und so sehr er hoffte eine zu finden, eine, die vergessen und verzeihen ließ, die wieder Basis für einen weiteren, gemeinsamen Weg sein könnte, so sehr ahnte er, dass irgendetwas tief in ihm Risse bekommen hatte und von denen er nicht wusste, ob seine Liebe zu ihr stark genug war, sie ungeschehen zu machen, sie wieder heilen zu lassen.

Diese Risse…

Paul

Hoffnung.

Noch immer saß Paul auf dem kleinen Hocker im Badezimmer, als die ersten trüben Lichtfetzen des neuen Tages durchs Fenster lugten und ihrem Gesicht so etwas unschuldiges, reines verliehen. Etwas von dem, in das er sich vor so langer Zeit verliebte und das ihren Namen trug. Und von dem bis zuletzt, bis gestern Abend nichts mehr übrig geblieben war. Auch die zarten, schmeichelnden Lichtfetzen dieses Morgens konnten den harten Zug um ihren Mund nicht hinfort wischen, konnten nichts von dem auslöschen, was sich bis zum gestrigen Abend wie ein roter Faden durch die letzten zwanzig Jahre gezogen, und aus ihm einen schwachen, zunehmend wortlosen Mann gemacht hatte. Immer wieder wollte Paul sie verlassen, immer wieder endlich einen Schlussstrich ziehen, der Qual ihrer Demütigungen, ihrer ewigen und immer heftiger werdenden Anschuldigungen und Vorwürfe ein Ende setzen, und gehen. Klaras manische Eifersucht, ihre Wutausbrüche, ihr wahlloses auf ihn Einschlagen wurden mit den Jahren zunehmend schlimmer und die Abstände dazwischen immer kürzer. Es verging kaum noch ein Tag, an dem sie nicht etwas zu Nörgeln, etwas an ihm auszusetzen hatte, kein Tag, an dem sie ihm nicht mal wieder eine Affäre unterstellte und ihre Hand, oder das was sie gerade darin hielt, brennend in seinem Gesicht oder sonst wo auf seinem Körper landete. Und es verging kein einziger dieser Tage seit diesen letzten zwanzig Jahren mit Klara, an denen er sich in Fassungslosigkeit vergrub, in der feigen Unfähigkeit, endlich zu gehen. Nicht ein einziges Mal gewehrt hatte Paul sich in all diesen Jahren. Ertrug alles was geschah ohne ein Wort, ohne auch nur ein Anzeichen des Entgegensetzens dieser Hölle, in der er sich befand und aus der es so einfach gewesen wäre, zu entkommen. Sie und Klara für immer hinter sich zu lassen. Und frei zu sein.

Bei dem Gedanken an dieses „Freisein“ musste Paul unweigerlich lächeln. Ein bitteres, zynisches Lächeln und er hatte sich in diesen Jahren so oft die immer wiederkehrende Frage gestellt, wer von ihnen beiden eigentlich wirklich krank und schwach war. Klara und ihre dunkle Seite, die alles und letztlich seine Liebe zu ihr zerstört hatte, oder er, Paul, der das alles ertrug, ja, ab einer Weile sogar wie selbstverständlich nichts anderes erwartete und hinnahm. Bis zum gestrigen Abend als dieses „Freisein“ endlich und immer stärker und schreiender in seinem Kopf hämmerte. Gestern Abend, als Klara ihm eine Ohrfeige verpasste, weil er mit der Nachbarin aus dem zweiten Stock im Treppenhaus nur kurz und über Belangloses geplaudert hatte. Hinter der Tür war sie gestanden und hatte auf ihn gewartet, mit diesem Flackern in ihren zu Schlitzen verzerrten Augen das Paul so sehr verabscheute und Klaras unmittelbaren Wutausbruch ankündigte, wie seit so vielen Jahren schon. Doch irgendetwas war anders am gestrigen Abend. Als Klara sich wie gewohnt zu einem Entspannungsbad zurückzog, stand Paul im dunklen Flur gegenüber des Badezimmers und beobachtete ihre Bewegungen durch das kleine, milchige Türfenster. Wie immer hörte er sie leise zu den Klängen ihres Lieblingsinterpreten aus dem Radiorecorder mitsingen, sah, wie Klara sich wie immer das Haar nach oben zusammensteckte, sich entkleidete und in das mit Lavendelduft dampfende Badewasser stieg. Paul hasste, wie sie mitsang, er hasste es, wie sie sich das Haar zurecht machte und er hasste diesen süßlichen Gestank des Lavendels, der unter der Tür hervordrang und durch die ganze Wohnung zog. Er hasste Klara.

Als hätte irgendetwas in ihm plötzlich und nach so vielen Jahren klick gemacht, als hätte dieses pochende „Freisein“ in seinem Kopf etwas von dem zurückgeholt, was ihn, was Paul einmal ausgemacht hatte – als wäre er weit entfernt von diesem kläglichen Jammerlappen seiner selbst, der er in all diesen Jahren mit ihr und diesen unberechenbaren Wutanfällen geworden war, öffnete er ruhig die Tür. Erstaunt schaute Klara zu ihm auf, als er das Bad betrat, auf sie zukam und unmittelbar neben ihr am Beckenrand stehen blieb. Irritiert registrierte sie diesen Blick, dieses Andere in seinen sie fixierenden Augen und ebenso erstaunt nahm sie noch wahr, wie Paul mit einem kleinen Fingerstoß ihren Radiorecorder ins Lavendelwasser, und sie, Klara zuckend in die Unendlichkeit des Jenseits beförderte. Am gestrigen Abend.

Wie unwirklich und bizarr es wirkte, wie sie jetzt da in dem eiskalten Badewasser lag, so friedlich und fast so jung ausschauend wie damals in diesem Bahnhofscafe, als sie beide sich das erste Mal begegnet sind, wie Paul sich in sie, und Klara sich in ihn verliebte. An diesem Nachmittag vor über dreißig Jahren. Die gleißenden Sonnenstrahlen hatten längst schon den neuen Tag einkehren lassen, als er aufstand und das Bad verließ um den Notarzt vom Auffinden seiner offenbar tödlich verunglückten Frau zu verständigen. „Freisein!“ Ja, das würde Paul jetzt. Und wie immer dieses Freisein auch aussehen wird, alles, alles wird besser sein und egal wie dieses „Besser“ aussehen mag.

Alles, ohne Klara.

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