„Gelächelt hat sie, die Standesbeamtin. Wie wir vor ihr gestanden haben, nervös mit den Ringen nestelnd und die wir schon über 20 Jahre trugen und die jetzt noch mal Symbol dafür wurden, was wir waren.“
Gedankenversunken starre ich aus dem Fenster, es ist früh und es ist noch dunkel da draußen. Stockdunkel. Und es regnet in Strömen. Das ist gut. Gut für die Natur nach diesem extrem heißen und trockenen Sommer. Schlecht für mich. Ich mag den Regen und das Dunkel der Nacht. Schon als Kind habe ich mich manchmal Nachts aus dem Haus geschlichen. Um sie zu genießen, diese Stille und diese Friedlichkeit. Auch heute noch sitze ich manchmal draussen und sauge sie in mich ein, diese stille Friedlichkeit der Nacht. Beobachte die Sterne und gehe auf Reisen, mit meinen Gedanken und Erinnerungen. Und mit der Frage, wie lange ich das noch erleben kann und darf.
Die vielleicht noch kommenden Sommer sind für mich übersichtlich geworden, das ist der Lauf der Zeit, eines Lebens. Meines Lebens. Manchmal wundere ich mich schon, dass ich überhaupt so alt geworden bin. Bisher. Und manchmal erschrecke ich mich. Vor dem was war, in so vielen Momenten meiner Zeit und dass ich nicht mehr so viel davon habe. Zeit.
Ja, ich mag den Regen und das Dunkel der Nacht. Immer noch und trotzdem. Trotzdem es mich erinnert. An das was geschehen ist und alles in mir verändert hat. Der Regen und das Dunkel können nichts dafür. Dafür, dass ich zutiefst gebrochen bin, dafür, dass ich nicht mehr sein kann wie ich mal war. Dafür, dass es mir alles genommen hat, was ich jemals geliebt habe. Dieses Dunkel und dieser Regen. Damals, an diesem Januartag. Damals, vor 4 Jahren, 8 Monaten, ein paar Tage und Stunden. So lange schon? So lange bist du schon nicht mehr da. So lange schon und doch fühlt es sich an, als wäre es eben erst geschehen.
Ich weiß noch, wie die Standesbeamtin uns mit ihrem warmen, herzlichen Lächeln von der Liebe erzählt hat, von dem was 2 Menschen verbindet, wenn sie vor ihr sitzen und ihre Zweisamkeit, ihr Zusammensein wollen mit einer Unterschrift besiegeln möchten. Ich weiß noch, wie glücklich wir waren. Wir Beide, Hand in Hand, so feste gehalten als wollten wir sicher gehen, dass uns nichts und niemand je wieder trennen könnte. Nichts und niemand. Damals, an diesem sonnigen Oktobermorgen und knapp 3 Monate vor dem, was mich bis heute nie wieder losgelassen hat und was mich quält.
„Ich bin zuhause da, wo mein Herz wohnt!“ hast du immer gesagt. Hast mich dabei immer angegrinst und mich in den Arm genommen, wenn du wieder heimgekommen bist. Zuhause. Ich hab mich dann immer fallen lassen, in deinen Armen, in deiner Liebe zu mir. Und manchmal höre ich dich das noch sagen, spüre deine Umarmung und verliere mich in deinen Augen, deiner so herzensgroßen Wärme und bin dann für einem Moment wieder glücklich. Glücklich, dass ich dir begegnen durfte, glücklich, dass es dich gegeben hat und wir miteinander leben durften. Für so lange Zeit.
Ich war besoffen. Und geil. Wie so oft in dieser Zeit Mitte der 90er. Immer auf der Suche nach einem schnellen Abenteuer, einem belanglosen Fick in der Nacht. Ohne ein Morgen und bis zum nächsten Abenteuer. Der Club war überfüllt und ich torkelte betrunken direkt auf die Tanzfläche. Um zu tanzen und zu baggern. Wie immer. Ich grinste blöde hier und glotzte taxierend dort, so viele Männer zur Auswahl und ich war sicher, auch diese Nacht nicht alleine nach Hause zu gehen. Und doch bin ich das. Alleine nach Hause gegangen, damals in dieser Nacht. Mein Herz, verschlossen. Von leidigen Begegnungen und kurzen Beziehungen, die nicht mal das Buchstabieren dieses Wortes wert waren. Bis mich fast der Schlag getroffen, mich von einer Sekunde zur nächsten ernüchtert auf der Tanzfläche erstarren lassen hatte.
Du hast die feiernde Menge durch deine Größe weit überragt und gelangweilt über sie hinweggeguckt, als sich unsere Blicke trafen. Mit einer Wucht, die ich bis heute spüren kann. Mit einem Zauber, der mein Herz bis zum Hals schlagen ließ. Du. Du, mit deinem abschätzenden Blick, der so arrogant wirkte und doch deine ganze schüchterne Unsicherheit direkt in mein Herz, in meine Seele bombardierte. Liebe auf den ersten Blick? Ich und Liebe?
Irgendwann hatte ich es durch das Gewühl tanzender Leiber zu dir geschafft, stand vor dir, zu dir hochschauend und hab so etwas wie ein „Hallo!“ gestammelt. Da war nichts mehr von dem suchenden Aufreißer, nichts mehr von der Geilheit, die mich in diesen Club getrieben hatte. Da waren nur noch du und ich und der Anfang vieler kommender Jahre. Du und ich. Wir. Ich weiß nicht mehr, ob und was wir miteinander geredet haben, weiß nicht mehr, wie lange wir da so voreinander standen. Geküsst haben wir uns. Plötzlich und ganz vorsichtig und zart. Nur kurz und doch mit aller Kraft zweier verlorener Seelen, die ihr Gegenüber gefunden hatten.
Verarscht hast du mich beim Abschied. In dieser Nacht und bevor ich gegangen bin. Wolltest mich testen, mit deiner auf einen Zettel geschrieben Telefonnummer. Du wolltest wissen, ob ich vielleicht zu doof für dich bin. So verschlüsselt, wie du deine Nummer aufgeschrieben hattest. Aber ich war sicher vieles, nur nicht doof. Den Zettel mit deiner Telefonnummer habe ich heute noch, vergilbt und in einem kleinen Kästchen mit den Dingen, die mir in meinem Sein das Wichtigste sind. Ich hab dich damals 2 Wochen warten lassen, bevor ich sie gewählt habe, deine Nummer und du hast gar nicht mehr mit meinem Anruf gerechnet, weil ich tatsächlich und ganz sicher zu doof war. Hast du immer wieder mal in launigen Runden erzählt.
Es regnet immer noch und mein Herz pocht. Es pocht, weil ich immer mehr an uns denken kann, an dich und ohne in Tränen auszubrechen. Hab so lange um dich geweint, hab so lange nichts mehr gespürt, außer diesem schreienden Schmerz in meiner Brust und bin heute froh und erleichtert, dass ich wieder an dich, an uns denken kann. Dass die Bilder und Erinnerungen an uns nicht verblasst sind, dass sie mich nicht vergessen lassen, wer und wie du warst. Meine Lebensliebe und das unfassbare Glück unserer gemeinsamen Zeit.
Meine Erinnerung an die erste Woche nach meinem Anruf, meine Erinnerungen an unsere wunden Lippen, weil wir nicht aufhören konnten zu knutschen, weil wir fast eine Woche lang nur aus dem Bett kamen, um was zu essen oder zu duschen. Und wie enttäuscht ich war, weil du wegen deinem Job wieder gehen musstest und ich auf harten Hund getan habe, um mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr du mir fehlen wirst, wie verrückt ich nach dir war und wie verknallt. Ich wusste und spürte, dass es dir genauso ging und wollte in meiner Verliebtheit nicht verstehen, dass du nach Hause, dass du zu deinem Job musstest. So zickig und abweisend war ich, als wir später telefoniert haben, so voller Sehnsucht, die ich nicht zeigen wollte. So verunsichert, ob du wirklich derjenige bist.
Gemein war ich, und du verletzt und konntest meine Reaktion nicht verstehen. Und ich erst recht nicht. Und welche Schwierigkeiten ich am nächsten Mittag hatte, offen, ehrlich und froh zu sein, als du plötzlich wieder vor meiner Türe gestanden hast. Mit traurigem, fragenden Dackelblick und einem riesigen Rosenstrauß, den du mir theatralisch vor die Füße geknallt hattest. Ich hab gelacht, hab dich für dein Drama ausgelacht und wusste endgültig, dass es Liebe ist. Das du der Mensch bist.
Du.
So klug, so liebenswert und voller Leben und Lachen. Du, so sehr wertvoll und sensibel, du, mit Allem was dich ausgemacht hat. Du, mit deiner Verlorenheit und deinen Selbstzweifeln, die immer wieder an dir genagt haben. Und ich, jetzt und heute. Ich, mit meiner Liebe, meiner Sehnsucht und meinem Schuldgefühl. Schuldig, weil ich dich nicht beschützen konnte, weil ich am Ende nicht bemerkt habe, wie sehr dich deine Verlorenheit ins endliche Dunkel gezogen hat. Schuldig.
Gelächelt hat sie, die Standesbeamtin. Wie wir vor ihr gestanden haben, nervös mit den Ringen nestelnd und die wir schon über 20 Jahre trugen und die jetzt noch mal Symbol dafür wurden, was wir waren. Gelächelt hat sie, weil wir wie 2 verliebte Jungs vor ihr standen, mit hochroten Köpfen und einem Grinsen, das alles gesagt hatte, was es über uns zu sagen gab.
Versteinert war ich, erstarrt und durchnässt vom Regen, als ich die Türe des Gartenschuppens öffnete. Auf der Suche nach dir. Ich hatte mich mittags erschöpft und müde für ein paar Stunden aufs Sofa gelegt und war irritiert, dass es im Haus dunkel war, als ich wieder aufwachte. Hab überall Licht und mir einen Kaffee gemacht und mich über die Stille gewundert. Hab gefröstelt, weil es an diesem Januartag so kalt und verregnet war und habe gedacht, dass du wirklich bekloppt bist, bei diesem Wetter in deinem Kräuterhäuschen zu werkeln.
Aber es war alles dunkel, kein Lichtschimmer durch die Fenster deines geliebten Häuschens, kein Licht aus deinem Büro in der oberen Etage. Nur Stille und Dunkelheit. So still. Ich konnte mich lange nicht mehr erinnern, kann nicht mal sagen, ob ich irgendwann ein komisches Gefühl oder Angst um dich hatte. Hab die Bilder so lange einfach ausgeblendet und nicht mal mehr das Knirschen der Klinke in Erinnerung, wenn man die Tür zum Geräteschuppen öffnete.
Für ein paar Sekunden stand ich nur da. Der Regen prasselte auf mich ein, so kalt und unnachgiebig. So kalt und wuchtig der Schlag, als ich dich dort liegen sah. Im Schimmer des Schuppenlichts und mit dem Rücken zu mir. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich nach dir geschrien habe oder wortlos blieb, kann mich nicht erinnern, was ich eigentlich gemacht habe – in diesen Sekunden, ich weiß nur noch, dass ich Mühe hatte dich umzudrehen, so groß und schwer, wie du warst. Dass ich dich in meine Arme gepackt habe, dich geschüttelt habe und nicht wusste, was gerade passierte. Wahrscheinlich wusste ich sofort, dass du nicht mehr lebst, wahrscheinlich war es so eine Art Unglaube, vielleicht Selbstschutz vor der Wahrheit, aber ich weiß es nicht mehr. Du hast mich mit deinen immer so strahlenden Augen angeschaut, diese Augen, in denen ich immer tief in deine Seele gucken konnte, diese Augen, die so herrlich blitzen konnten, wenn du wütend warst und so voller Liebe und Wärme, wenn du mich angeschaut hast. Diese Augen, die jetzt leer und seelenlos, so verdammt leer und seelenlos starrten.
Ganz feste hab ich dich gehalten, hab versucht, dich wiederzubeleben, hab nach Hilfe geschrien, bin zum Telefon gerast und wieder zurück zu dir, Notarzt, Familie. Konnte nicht aufhören, zu schreien und zu heulen, konnte nicht aufhören, dich zu rütteln und konnte nicht aufhören zu wissen, dass du mich nicht mehr hörst. Nie mehr.
Nie mehr,
Die Erinnerungen treiben mir auch heute noch die Tränen in die Augen, lassen mich immer noch erzittern und bohren sich wie glühendes Eisen in mein Herz. Mir ist längst friedlicher geworden, ich habe gelernt damit zu leben. Damit, dass du dich selbst, dass du uns verlassen und dir dein Leben genommen hast. Damit, dass ein großer Teil von mir mit dir gegangen ist, damit, dass ich gebrochen bin und damit, dass meine Liebe zu dir und meine Sehnsucht niemals mehr aufhören werden, in meiner Brust zu brennen. Damit, dass ich nie mehr etwas anderes möchte als alleine zu sein. Ohne dich und doch immer an meiner Seite.
Der Schock und die Unfassbarkeit sitzen tief, aber sie gehören jetzt genauso zu mir wie die Zeit und die Erinnerung an dich. Diese so tiefsitzende, schmerzliche Traurigkeit, die mein alltäglicher Begleiter geworden ist, diese Gedanken und Bilder, die immer wieder mal hochkommen – an dich und an diesen kalten, regnerischen Januartag, das Bild, als die Bestatter dich in einem schwarzen, geschlossenen Sack auf der Trage aus unserem Haus gefahren haben, dieses Bild, als dich der Leichenwagen Tage später zum Krematorium gefahren hat – und ich noch ewig hinterhergegangen bin, bis nichts mehr von dir zu sehen war. Dieses Bild, als ich Wochen später deine Urne in den Armen hielt.
Dieses Gefühl, das ich niemals in Worte fassen kann.
Du warst mein Geliebter, mein Herzensmensch, meine Lebensliebe und du warst mein Freund. Ich vermisse dich so sehr und wünsche mir so oft, dass es endlich aufhört und ich Frieden finde. Ich lebe immer noch gerne, trotz allem, und ich genieße jeden einzelnen Tag ohne dich. So gut und so lange es eben geht, für mich und weil es mich auch noch gibt.
Und, weil ich weiß und spüre, dass du mir deine Liebe dagelassen hast, und sie alles ist, was ich brauche.
Bis wir wieder zusammen sind…
