30. september, gestern, heute, morgen
30. september, gestern, heute, morgen

30. september, gestern, heute, morgen

„Du Idiot“, würdest du sagen. „Das Leben ist viel zu schön, um traurig zu sein!“ hast du mir mal auf einen kleinen Zettel geschrieben. Aber da wusstest du noch nicht, wie traurig mein Leben sein wird.“

Manchmal frage ich mich, wie es dir jetzt gehen würde. Wie du dich fühlen, wie du damit umgehen würdest. Mit diesen dunklen Zeiten. Heute, fast 5 Jahre nach deinem Tod. Fast 5 Jahre ohne dich an meiner Seite. 5 Jahre. Wie die Zeit rennt. Wie ich in diesen 5 Jahren gerannt bin, davongelaufen und doch stehen geblieben bin. Stehengeblieben mit meinem Schmerz, meinen chaotischen Gefühlen, die mich so lange gequält haben und die mich Dinge tun lassen haben, für die ich heute die Rechnung bekomme. Ich war so lange einfach nicht mehr da und so tot wie du. Nur, dass mein Herz nicht aufgehört hat, zu schlagen. Bumm Bumm Bumm, jede Sekunde, Minute, jede Stunde und jeden Tag, seit ich dich gefunden habe und alles vorbei war. Alles.

Ich ertappe mich auch heute noch dabei, dass ich mich nach dir umschaue und etwas sagen will, mit dir reden, mich mit dir austauschen will. Über alles, was gerade in dieser Welt geschieht. Darüber, wie es weiter gehen soll. Mit diesem grässlichen, furchtbaren Krieg, der jetzt schon auch unserer ist und der es schwer macht, an ein Morgen zu denken, zu glauben. Krieg, weil ein Russe größenwahnsinnig ist. Was würdest du dazu sagen?

Ich ertappe mich. Dabei, dass ich oft noch in Gedanken Szenen unserer Zeit verändern will. Mir fallen Momente ein, die nicht gut für uns waren. Für dich nicht, für mich nicht. Momente, die das Leben nun mal schreibt und die dazu gehören. Zum Auf und Ab des Seins. Liebe, Vertrauen, Zweisamkeit, Verstehen, das ohne den Anderen nicht sein können, nicht wollen, all das, was uns ausgemacht hat, all das was nicht mehr ist und nie wieder sein wird. Wir konnten 24 Stunden, 7 Tage die Woche auf engstem Raum aufeinander hocken, ohne uns auf den Sack zu gehen und wir konnten zanken wie die Kesselflicker. Schöne Zeiten, schwierige Zeiten. Intensiv, und leidenschaftlich und so wie wir Beiden nun mal waren. 2 Menschen, die so wuchtig aufeinandergeprallt sind und nicht mehr voneinander loslassen wollten.

Ich ertappe mich dabei, dass ich unsere unschönen Momente ausradieren möchte, dass ich sie zum Guten umschreiben möchte, dass ich dadurch etwas verändern, etwas besser machen könnte. Dann, wenn ich in Gedanken versinke und mich erinnere. Dann, wenn etwas tief in mir immer noch nicht glauben kann, dass es dich nicht mehr gibt und dieses Etwas in mir immer noch hofft, dass du jeden Moment fröhlich nach Hause kommst und fragst, was es heute zu Essen gibt. Wie dumm von mir. Alles ist passiert und nichts davon lässt sich jemals rückgängig machen, nicht das kleinste Gedankenspiel kann den Lauf unserer Geschichte verändern und alles bleibt, so wie es ist.

Ohne dich.

Ich stand in unserer Küche. An die Spüle gelehnt und starrte an die Wand. Keine Regung, keine einzige Träne. Ich weiß nicht mehr, ob ich irgendwas gedacht oder gefühlt habe. Ich stand nur da und starrte. Und ich hab geraucht. Eine Zigarette nach der anderen und nach so vielen Jahren Abstinenz. Geraucht und gestarrt. Um mich herum Chaos und klirrende Geräusche. Draußen auf der Terrasse standen die Notärzte, die umsonst gekommen waren und sich salopp unterhielten, über alles und darüber, dass es wieder einer getan hat und dass der da im Schuppen schon mindestens 2-3 Stunden tot ist. Die beiden Kripobeamten, die mich weggeschickt haben und damit beschäftig waren, dich auszuziehen und zu untersuchen. Das macht man wohl so, um bei einem Suizid Fremdeinwirkung auszuschließen. Chaos in mir, Chaos um mich herum. Meine Schwester und deine, Entsetzen und Unfassbarkeit in ihren Gesichtern. Eine Zigarette nach der anderen.

Mir war so kalt, so eiskalt als ich dann ein letztes Mal zu dir in den Schuppen durfte. So eisig kalt wie dieser Januarabend. Sie hatten dir die Augen geschlossen und es sah so aus, als würdest du friedlich schlafen. Dein Gesicht, so entspannt, so schön und so friedlich wie dein ewiger Schlaf. Aber nichts war friedlich. Nackt hast du dort auf dem Schuppenboden gelegen, kalt und ungeschützt und so würdelos am Ende deiner Zeit. So würdelos, als ich dich ein letztes Mal in meine Arme nahm und mich von dir und diesem Moment verabschiedet habe. So würdelos die beiden Beamten, die mich nicht mit dir allein lassen wollten und an die mich nur noch ihre Schuhe und Beine erinnern, weil sie neben uns stehen geblieben sind.

Irgendwoher hatte ich plötzlich deine Lieblingsdecke, in die du dich abends auf der Couch immer lecker eingekuschelt hattest, irgendwie hab ich sie um dich gewickelt, damit dir nicht mehr kalt ist, damit dieses Würdelose aufhört. Die Beine und Schuhe und mein schreiender Schmerz, als ich dich ganz fest an mich gedrückt habe, als ich dich ein letztes Mal geküsst habe. So lange vergessen, so lange verdrängt und heute fällt mir alles wieder ein. Alles, was ich nie wieder spüren wollte. Mein Herz pocht und es ist, als wäre keine Sekunde seitdem vergangen. Als wäre ich für immer in diesem Schuppen geblieben. Mit dir und meiner Verzweiflung. Und den Erinnerungen, wie Menschen sein können.

Vielleicht waren die Notärzte und Kripobeamten einfach nur professionell und distanziert und so, wie sie ihren Job nur machen können. Das dämliche Gequatsche auf der Terrasse, die harsche, ungehaltene Befragung, um herauszufinden, ob ich dir was getan haben könnte. Vielleicht alles normal und Routine, aber nicht normal für mich. Normal. Nichts war und ist je wieder normal. Seit diesem Abend im Schuppen.

Was würdest du nur sagen?

Dass Putin einen verbrecherischen Krieg angezettelt hat und brutal weiter macht? Dass das uns alle mit in die Scheiße geritten hat, Gas, Strom, zunehmend aggressivere Menschen, Ebbe im Kühlschrank und die Angst, die Sorge, was Morgen sein wird. Und die Gefahr, vielleicht doch noch infiziert zu werden und an Covid19 verrecken zu müssen. Ich, mit meiner kaputten Lunge und so, wie ich die vergangenen Jahre sinnlos dahingelebt und mich in meine jetzige, gesundheitliche Situation bugsiert habe. Ich Idiot.

„Du Idiot“, würdest du sagen. „Das Leben ist viel zu schön, um traurig zu sein!“ hast du mir mal auf einen kleinen Zettel geschrieben. Aber da wusstest du noch nicht, wie traurig mein Leben sein wird, weil du nicht mehr da bist. Dass ich mich, dass ich mein Leben vergessen werde und dass die Traurigkeit die Essenz meines Seins werden wird, weil es dich, weil es uns nicht mehr gibt.

Heute.

Heute weiß ich wieder, erinnere ich mich wieder, was Gestern war. Heute ist diese verdammte, so wehmütige Traurigkeit ein selbstverständlicher Teil von mir geworden. Und ich kann damit leben. Ich kann wieder leben, so gut es eben geht. Ich kann mich wieder freuen, kann wieder lauthals lachen und an meiner Zeit wieder teilhaben. Kann spüren, dass ich noch da bin und noch nicht tot sein will. So wie du. Hab lange tonnenweise gekifft, um mich wegzuballern und nicht an dich und dem was geschehen ist, denken zu müssen, hab ewig am Tag nur eine Banane gegessen, um irgendwas gegessen zu haben und um mit dem Wegballern weiter machen zu können. Hab mich verloren und nicht mal bemerkt, was ich mir damit antue.

Bis da in meinem Bauch fast ein fettes Aneurysma geplatzt wäre, bis mich nur einige Wochen später 2 Schlaganfälle ins Krankenhaus gezwungen haben, weil meine Hirnschlagadern verengt sind, und bis mein Hausarzt vor mir saß und mir sagte, dass ich jetzt Diabetiker geworden bin, bis ich statt tonnenweise zu kiffen, jetzt jeden Tag tonnenweise Tabletten schlucken muss, um mein Leben zu verlängern.

Das alles hätte nicht sein müssen, ich weiß – und ich weiß auch, was du sagen würdest. Und wie sauer du auf mich wärst, weil ich so mit mir umgegangen bin. Und ich weiß auch, was ich dir antworten würde. Nein, du hast keine Schuld daran, dass es jetzt so ist. Dass ich jetzt allein und zuweilen sehr einsam bin, dass ich manchmal mit diesem Zustand nicht gut zurechtkomme und nicht wahrhaben will, was ich mit mir angestellt habe. Und dass meine Zeit so überschaubar geworden ist.

Wir wollten nie etwas anderes, als für immer zusammen zu bleiben, wollten zusammen alt werden und haben schon im Voraus so oft über uns zwei ollen, verschrobenen Knochen gekichert. Und vielleicht wollten wir auch eines Tages zusammen sterben, dort auf unserer Bank am Meer. Vielleicht.

Morgen.

So sehr ich mich wieder gefangen haben mag, so sehr ich auch jede einzelne Sekunde lebe und auch genieße, so sehr gibt es Dinge und Begebenheiten, die ich nicht mehr ertrage, die ich ausblende und nicht mehr haben will, nicht mehr haben kann. Dein Lieblingsessen, Spaghetti Bolognese, Weihnachten, dein Geburtstag, mein Geburtstag, dein Todestag und das Ende meiner Leichtigkeit. Das kann und will ich nicht mehr. Aber ich kann dich immer noch riechen, kann deine Stimme hören, deine liebevollen Blicke, dieses unglaubliche Grün deiner Augen. Deine Wärme. Und ich kann sie immer noch spüren. Diese Liebe für mich. Und meine zu dir.

Nein, meine Wunschgedanken nützen nichts, sie können nichts anders machen, können nichts daran ändern was war, nicht die guten und auch nicht die schlechten Tage unserer Zeit. Alles, was bleibt sind meine Erinnerungen. An dich, an uns und an das, was man wohl Glück nennt, dir begegnet zu sein. Es tut weh, dass es so ist, aber es ist so gut, dass es war. Du und ich.

Morgen?

Ist ein anderer Tag…

3 Kommentare

  1. Julbarthel

    Was für ein intensiver Text! Mit jeder Zeile hat es mich weiter in deine Geschichte reingezogen und ich konnte stark mitfühlen, was du erzählst. Ich habe selbst ähnliche Erfahrungen gemacht und leide heute noch darunter, dass ich nicht helfen konnte und man fühlt sich schuldig nichts gemerkt zu haben. Es ist faszinierend wie bildhaft du die Situation beschreibst und man fühlt 100% mit, was du und deine Leute durchmachen mussten. Ich wünsche dir weiter viel Kraft und den Mut weiterzumachen!!! Jul

  2. Petra

    Das liest sich sehr traurig und nachvollziehbar und ich konnte nachfühlen, wie es dir ergangen sein muss. Ich habe vor drei Jahren meinen Mann verloren und fühle mich bis heute schuldig und verantwortlich das er sich das Leben genommen hat. Er hatte Depressionen aber nichts hat darauf hingedeutet was er vorhat. Mir ist es sehr schwer gefallen weiter zu leben und ich habe mir dann Hilfe geholt. Falls es dich interessiert kannst du mal dem Link folgen, vielleicht hilft es dir. Ich wünsche dir alles gute.

    https://www.suizidprophylaxe.de/hilfsangebote3/bundesweiter-selbsthilfeverein-fuer-angehoerige-um-suizid/

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