„Wenn du noch da wärst, läge jetzt auf einer Sofahälfte der aufgeklappte kleine Rollkoffer und alles wäre schon eingepackt und parat. Wenn du noch da wärst, hätte ich nicht so viel Angst.“
Ich wusste gar nicht mehr, dass es davon ein Video gibt. Gesucht hab ich was ganz anderes. Gestern. Und ich konnte nicht aufhören, hinzugucken. Alle waren da. Alle, die uns lieb und wichtig waren. Und alle lächeln, während sie auf uns gucken.
Wir haben auch gelächelt.
Ganz eng standen und saßen wir beieinander. In dem Video. An unserem Tag. Meine Fresse, was waren wir glücklich. Nach 25 Jahren und an diesem Tag. Immer noch.
6:04, muss heute noch viel tun.
Soll mich nicht aufregen, mich nicht anstrengen. Das kleine Monster in meinem Bauch könnte reißen, wenn ich meinen Blutdruck hochschiesse. Soll auf Dinge achten, die mir so lange scheißegal waren.
Seit es ein ganz anderer Tag war. Unser letzter.
Ne, das wird nie vorbei sein. Mein Herz schlägt immer noch sofort schneller. Wenn ich daran denke, an diesen letzten Tag. Keine 3 Monate später und nachdem das Video gemacht wurde.
Alle grinsen auf dem Video. Und während sie uns was vom Leben, von der Liebe und gemeinsamen Wegen erzählt, grinst sie auch. Die Standesbeamtin.
Wenn du noch da wärst, läge jetzt auf einer Sofahälfte der aufgeklappte kleine Rollkoffer und alles wäre schon eingepackt und parat. Wenn du noch da wärst, hätte ich nicht so viel Angst. Weil du da bist.
Und ich wüsste nicht so genau, was Sehnsucht ist. Und Einsamkeit. Und du wüsstest, wo die verdammten Taschentücher sind. In der Klinik kann ich mir schlecht wie zuhause die Nase mit Küchenpapier abputzen, und mit der Rolle unterm Arm durch die Gegend laufen. Ich hab Sorgen…
Hab noch gar nichts vorbereitet. Aber ich kenn’ mich. Plötzlich macht’s wusch und ich leg los. Das hat dich einerseits immer fuchsig gemacht. Besonders in Hektik. Und andererseits hast du das bewundert. „Kommste heut’ nicht, kommste morgen“ und trotzdem pünktlich am Ziel.
6:37 und der 2. Kaffee. Hab diese ganz bestimmte Beklemmung in der Brust. Das ist immer so. Wenn ich an dich denke. Jetzt, wenn ich von dir und uns erzähle. Wie sich das anfühlt. Meine Versuche, diese grausame Stille und Sprachlosigkeit zu überwinden.
Rauszulassen. Loslassen?
Stelle gerade fest, dass ich gar keine herzeigbare „Tageshose“ für das Krankenhaus habe. Naja, vor dem Eingriff werde ich wegen der scheiß Pandemie eh nicht ohne Grund über die Flure geistern, und danach weiß ich noch gar nicht, wie es weitergeht. Und ob.
Ich wieder. Na und, ich darf auch Schiss haben.
Das war auch so ne Macke, über die du dich oft lustig gemacht hast und doch genauso oft froh warst, dass ich mal wieder alle Eventualitäten mit ein„orakelt“ habe, wenn was anstand, wenn was war. Das hatte und hat auch nix mit Pessimismus zu tun. Vorbereitet zu sein ist immer besser.
Vorbereitet zu sein.
Bin schon manchmal erstaunt. Dass ich nicht von Zynismus, von Sarkasmus oder Wut zerfressen bin. Dass ich nur gebrochen bin. Und mein Herz sowieso. Dass ich ne Heulsuse geworden bin. In jeder noch so kleinsten, aber berührenden Situation geht mir das Herz auf und ich kriege Pipi in den Augen. Ich hasse das.
Ein einziges Mal war ich nicht vorbereitet. Ein einziges Mal.
Apropos Vorbereitung, wie lange hält eigentlich so ne elektrische Zahnbürste ohne Station? Vielleicht besser die normale mitnehmen. Während ich hier meine Gedanken sortiere, mach ich parallel gerade ne to-do-Liste. Hab ich von dir gelernt. Abgearbeitet, Häkchen dran, Sache geritzt. Gerade kommt angeflogen, dass du beim Dinge erledigen immer deine Zungenspitze keck aus dem Mundwinkel gestreckt hast, auch beim Häkchen machen.
Wie mir das fehlt. Jetzt und immer. Und alles. Du.
Was ist, wenn ich bei dem Eingriff abkratze? Sehen wir uns dann wieder? Ist dann alles wieder wie früher und wir sind glücklich? Wieder zusammen? Hab ich dann auch keine Schmerzen mehr? Weil es dann nicht mehr so weh tut? Dass du tot bist? Und ich dann auch?
Ich wollte so lange gar nichts mehr. Aber tot sein will ich auch nicht. Jetzt noch nicht. Ich bin echt bescheuert.
Doch, das Video ist richtig schön.
Konnte es bis zum Ende gucken und bin nicht zusammengekracht. War wie in Trance, nein, nicht high. Eher so distanziert interessiert. Ist auch scheißegal wie ich es nenne. Hab uns gesehen. Uns an unserem Tag. Dich. Und wie du die ganze Zeit meine Hand gehalten hast. Was für ein wunderschöner, strahlend sonniger Oktobertag.
Was für ein wunderschöner, strahlend sonniger Mensch an meiner Seite. Hochzeitstag.
Sie hatten Recht. Meine liebsten Leutz haben recht. Irgendwann kann man sich erinnern. Irgendwann kann man Bilder anschauen, Audios hören. Und Videos nicht sofort wieder wegklicken. Irgendwann geht das.
Sich zu erinnern.
3 Monate nach unserem Tag war dann dein Tag. Dein letzter. Und mein erster ohne dich. Ganz stimmt das nicht. Bist immer da. Immer. Auch wenn du nichts mehr sagst. Auch wenn du mich nicht mehr so angucken kannst, wie du es immer getan hast. Auch wenn du mich nicht mehr sofort und ganz feste und wärmend umschlingen kannst, wenn ich vom Schüttelfrost klappere, der mich seit der letzten OP immer wieder mal heimsucht.
Ich hab Angst, hörst du? Hilf mir. Bist du wirklich noch da?
Klar, prompt flenne ich. Dass ich überhaupt noch heulen kann. Meine Trändendrüsen müssen von der Produktion ausgeleiert sein.
Ist gut, dass ichs rausschreibe. Ist gut, dass ich mich wieder erinnern kann. Vielleicht renne ich dann weniger, und finde sogar mich wieder. Ohne dich hab ich schon zig Mal hilflos vor einem Riesenberg gestanden, und bin doch drüber gekrabbelt. Irgendwie und trotzdem. Also, weiterkrabbeln.
Irgendwie und trotzdem.
Das ändert trotzdem nichts daran, dass ist was ist. Das ändert trotzdem nichts mehr daran, dass ich nicht mehr der Selbe bin, dass nichts mehr ist und sein wird, wie es war. Und doch ändert es alles. Und wenn ich leben will, wenn ich die Zeit, meine Zeit noch erleben will, muss ich der Initiator von Veränderung sein. Manchmal bin ich richtig klug und weise.
Nützt aber auch nix, wenn ich keine vernünftige „Tageshose“ für die blöde Klinik finde.
Muss packen.
