„Klar, ich bin 59 und verknittert und da sieht man äh, ich nun mal so aus. Aber auch wie anno 90er die Ophoven-Tochter in ihrer leidenschaftlichsten und aufgeplustertsten Muschilippenphase?“
Ostersonntagmittag und draußen hagelt’s kleine Eier.
Oder so.
Gerade überlege ich, ob ich miese Laune habe, oder mal wieder vor lauter Blödsinn nicht weiß, was ich anstellen könnte. Ich werd’ nie erwachsen. Muss ich jetzt auch nicht mehr. Solange ich weiß, wie man die Miete überweist, komme ich so langsam klar. Mit mir. Und meinen Schrulligkeiten. Ich weiß nicht mal, ob ich mich in meine eigene kleine und geschützte Welt zurückgezogen hab, oder ob ich nur gelernt hab, mich zu schützen. Vor der Welt da draußen. Nein, nicht vor der Welt, vor den Menschen.
Aber ich bin heute so gar nicht philosophisch unterwegs, ich kicher lieber immer noch blöde. Über mich. Mal wieder. Bin wirklich ein Trottel, aber ich fürchte, das ist auch gut so.
13:28, der Köter schnarcht. Und träumt jodelnd. Ich bin aber zu faul aufzustehen, um kurz gegen das Körbchen zu tuppen. Geht immer. Aber na gut, weil Ostern ist.
Gestern früh.
Wache auf und sehe im Halbdunkel der Morgendämmerung, dass der Hund gleich vom Fußende des Bettes runterkracht. Gleich ist gut, Rrrrumms. Kurzer Quieker, 1x Durchschütteln und Hops, war er wieder oben.
Er und ich haben ein Morgenritual, oder besser, er hat eins.
Sobald ich auch nur mit den Augenlidern zucke, hab ich ne feuchtkalte Hundenase in meiner linken Augenkuhle. Das ist ja irgendwie putzig, kann ich aber trotzdem nicht leiden. Feuchtkalt am frühen Morgen ist unschön. Meistens schaffe ich’s gerade noch, mich flott wegzudrehen und das schnaufende Dingen mit Hund dran landet „nur“ in meiner Ohrmuschel. Auch nass, aber ein bisschen lustiger.
Gestern früh saß er nur da und glotzte mich an.
Selbst im Dämmerlicht konnte ich genau sehen, dass der Hund mich taxierte. Ich taxierte zurück. Hat der se noch alle?
Plötzlich schiebt er seinen Kopf ein bisschen vor und fängt an, interessiert in meine Richtung zu schnuppern. Hab ich mal wieder Abendessen im Schnorres hängen, oder wat? Hurtig will ich mit der Zungenspitze kontrollierend über selbigen fahren und erschreck mich. Mein Schnorres war weg. Naja, stimmt nicht ganz, er war schon noch da. Nur woanders. Irgendwie weiter oben.
Und dazwischen was ziemlich dickes.
14:02. Hab gar nicht bemerkt, dass Hundi gar nicht mehr schnarcht sondern neben mir sitzt und mich anglotzt. Das kann der gefühlt stundenlang. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Das macht der einfach so. Sitzen und glotzen.
Der Hund.
Knapp 3 Monate alt war er, als wir dachten, dass Lulu mit seinen 9 Jahren genau jetzt son kleinen, jungen und quirligen Kumpel an seiner Seite gut tun würde. So ein Schäferhund fängt in dem Alter schnell an, abzubauen und dagegen kann man was tun. Beraten, entschieden und los. Im wilden Welpengewusel stand mittenmang ein großer Futternapf. Gequietsche und Gehatze drumherum, saß dort ein kleiner Kerl mit großen Ohren und Kulleraugen gemütlich seelenruhig erhaben im Napf.
Und glotzte.
Ich murmelte was von „Emil aus dem Napf“ und die Nummer war gegessen. Willkommen in der Familie.
Gleich kippt er um.
Inzwischen stramme 11 Jahre, ist der Köter natürlich auch schon ein bisschen verpeilt. Aber das passt ja. Echt’n liebenswertes kleines Kerlchen, furchtbar terriereigensinnig und gleichzeitig schrecklichst verkuschelt, mit weißem Augenaufschlag inklusive. Was bin ich froh, dass ich das Kumpelchen habe. Hund bleibt Hund und hat seinen Platz, keine Frage, aber son Hund kann echt ein kleiner Freund und Begleiter werden. Und manchmal auch ein Lebensretter.
14:56. 5.April, Ostersonntag. Doch, du fehlst mir. Ganz schlimm. Gerade an solchen Tagen ist das elendig schlimm. Nicht durchgehend, aber immer wieder mal zack da. Dass du nicht mehr da bist. Es ist ja nicht so, dass wir in unseren vielen gemeinsamen Jahren nicht eigenständig geblieben sind und jeder auch seine eigenen Wege gegangen ist, nein, aber wir haben nun mal den Großteil unseres Lebens, unserer Zeit miteinander verbracht. Daraus entstehen so viele gemeinsame, selbstverständliche und alltägliche Rituale und Traditionen. Und wenn die plötzlich komplett von jetzt auf gleich nicht mehr da sind. Weil du und unser Wir nicht mehr da sind, dann wird’s seltsam.
Dann wird’s einsam.
Ich konnte so lange nicht mehr vernünftig frühstücken. Richtig zu Abend essen. Überhaupt essen. Oder mich mal richtig ausruhen. Und schlafen. Mehr als 1 oder 2 Stunden. So lange. Konnte nicht aufhören, zu rennen. Und zu schreien. Da in mir. Konnte ich überhaupt noch irgendwas? Hat sich meine Welt seitdem überhaupt wieder weitergedreht? Bin ich wirklich stehen geblieben und wieder aufgewacht? Nur ein Alptraum?
Nein.
Ich bin nicht mehr der Selbe und oft erstaunt. Über mich. Und diese Welt. Erstaunt darüber, dass ich echt noch aufrecht gehe. Dass ich tatsächlich noch lebe. Die ersten so langen Monate nach deinem Tod sind in meiner Erinnerung immer noch schwammig und kaum erkennbar. Die erste Sekunde seitdem sowieso. Ich sehe nur die dämmrige Schuppenlampe. Und die reicht.
Nein. Kein Alptraum. Und nein, ich bin nicht mehr der Selbe. Und ja, du bist tot. Kein Alptraum. Kein falscher Film.
Mein Leben. Jetzt.
Ich denke keine Sekunde mehr daran, brüllend gegen den nächsten Brückenpfeiler zu knallen. Oder einfach die Luft anzuhalten. Wollte einfach nur bei dir sein. Nicht mehr hier sein müssen. Ohne dich. Dunkle Zeiten. Wirklich dunkel. Ich kann mich nicht mal richtig daran erinnern, wie ich da wieder rausgekrabbelt bin. Ich will immer noch immer bei dir sein. Ich kann’s immer noch schlecht ertragen, dich nicht mehr zu riechen, zu spüren, zu hören. Und zu sehen. Ich weiß echt nicht mehr wie sich Berührungen, Umarmungen anfühlen. Fehlen sie mir überhaupt? Wenn es nicht deine sind? Ich bin wirklich schrullig geworden.
Du bist ja nicht weg. In meinen Gedanken und Erinnerungen. Und seit ich spitz gekriegt habe, dass man, quatsch, dass ich das ein und andere Ritual trotzdem weiter zelebrieren kann. Und du ja trotzdem dabei bist. In meinen Gedanken und Erinnerungen. Da höre ich dich schmatzen und schlürfen. Und meine Welt ist wieder ein bisschen in Ordnung. Beim Frühstück und ohne ein 2. Gedeck für dich. Ich bin bekloppt. Aber kein Teppichflieger.
Apropos bekloppt.
Du hättest deinen feixenden Spaß gehabt. Gestern früh.
16:23. Stehe vorm Spiegel und betrachte, was gestern früh meinen nahen Erstickungstod zu prophezeien schien. Der Hund, Arsch überall dabei, lutscht währenddessen genüsslich an meinem dicken Onkel. Der ist schon komisch. Ich muss dem das abgewöhnen. Das ist ekelig.
Wie gesagt, Halbdunkel, weit entfernt von wach und energiegeladen und begleitet von taxierenden Hundeblicken, schlich ich gestern früh ins Bad um festzustellen, weshalb meine Zungenspitze nicht mehr bis zum Schnorres reicht. Abgebissen hatte ich sie mir eher nicht. Das Spiegellicht flackerte mich brutal an. Klar, ich bin 59 und verknittert und da sieht man äh, ich nun mal so aus.
Aber auch wie anno 90er die Ophoven-Tochter in ihrer leidenschaftlichsten und aufgeplustertsten Muschilippenphase?
Das war gestern früh wirklich nicht schön.
Du warst nicht da und ich hatte ne geschwollene Oberlippe von hier bis nach Jericho. Innen links auch alles zugeschwollen, ne Backe wie Nikolaus und’n Knopfauge in Schlitzform. Es war soweit, ich musste jetzt sterben. Leck mich am Arsch, wat eigentlich noch alles?
Gerade von der OP erholt und langsam wieder aufwärts, stand ich da blöde glotzend in aller Frühe vorm Spiegel und wimmerte. Nicht nach Mami, nach dir. Du hättest schnell gecheckt was los ist, gehandelt und mich beruhigt, gackernd, versteht sich. Aber du Arsch bist ja nicht mehr da. Dein Gackern hab ich dann trotzdem gehört. Gut so. Durchknallen ist noch nicht.
„Dicke Lippe“ war echt kein Ausdruck. Und Chiara Ohoven harmlos dagegen. Das war ein Ballon und ich einfach nur furchtbar bedauernswert. Und weh getan hat’s auch. Hab mich dann doch wieder eingekriegt. Und mich erinnert. Ich reagiere neuerdings allergisch auf manche Lebensmittel oder Gewürze. Das hatte ich vor ein paar Monaten schon mal. Nicht so extrem aber auch dick. Ein bisschen Eis drauf und Kaffee mit Halm schlürfen, schwillt wieder ab. Schwoll wieder ab. Natürlich.
Ostersonntagabend, 19:32. Stille. Wieder.
Du fehlst.
Du fehlst, du fehlst, du fehlst.
Du fehlst.
Aber was soll ich machen?
Du fehlst.
