Luises letzter Tanz
Luises letzter Tanz

Luises letzter Tanz

„Weintrunken und „Dancing Queen“ lallend an den Fenstern vorbeihuschend, sah sie schon recht seltsam aus mit ihren steifen, unbeholfenen Tanzversuchen. Aber Luise war so etwas wie glücklich dabei.“

Sie war schon das, was man eine alte, leicht schrullige Jungfer nennen könnte. Bedenkt man jedoch Luises leidenschaftliche Begegnung mit Heinz, als sie um die dreißig und er ihr Dachdecker war, hatte es sich bei ihr mit Jungfrau. Sie zehrte noch lange von dieser kurzen, aber heftigen Liaison mit diesem ungehobelten Handwerker, die auch die einzige sexuelle Begegnung mit einem Mann bleiben sollte. Danach hatte Luise nie wieder Zeit für so etwas. Vielleicht wirkte sie deshalb auf andere wie eine alte Jungfer, obwohl sie allen Leuten stets freundlich und höflich begegnete. Inzwischen 68-jährig, lebte die ehemalige Direktorin der Grundschule „Gebrüder Grimm“ schon seit über 25 Jahren in der 2-stöckigen, sehr großzügig geschnittenen Mietwohnung im Haus Nr. 7 in der Kapuzinerstraße, die Luise nach dem plötzlichen Tod des geliebten Vaters zuletzt mit ihrer Mutter teilte, bis diese, der Herr hab sie selig, vor 5 Jahren im Schlaf an einem abgebrochenen Stück ihres Gebisses erstickt war. Knapp ein Jahr zuvor erst der Vater, und nun die Mutter. Eine Tragödie.

Seitdem verlor sich Luise immer wieder mal mehrere Abende hintereinander in zwei Litern Wein und Maria Callas auf Kopfhörer. Das war so ein ultra modernes Teil, das sie sich von dem adretten jungen Mann in der Fachabteilung für Unterhaltungselektronik hatte empfehlen lassen. Der Kopfhörer war ohne Draht und Luise konnte jetzt auch mal mittanzen, wenn ihr danach war. Oder besser, wenn sie dann noch konnte. Also aufstehen. Luise vertrug nun mal keinen Alkohol und schlief regelmäßig an solchen Abenden ohnmachtähnlich in ihrem von Großmutter Hildegard väterlicherseits geerbten Ohrensessel ein und schnarchte bis in die Morgendämmerung und so einnehmend, dass ihre beiden Wellensittiche Karl-Friedrich und Greta (zu Ehren Greta Garbos, die Luise sehr verehrte und von der sie sogar ein wenig die Augenpartie hatte. Also von Greta, nicht dem Vogel.), rhythmisch auf der Stange mitvibrierten und wahlweise dauerselig oder übelstgrün dabei dreinschauten. Nach solchen Abenden sahen die Drei am jeweils nächsten Tag schon leicht derangiert aus. Die Sittiche. Und Luise. Aber die konnte ja bei Bedarf entsprechend Make-up auflegen. Denn sie verlor ihre Contenance in der Öffentlichkeit nie bis äußerst selten. Eigentlich doch eher nie.

Die meisten Leute, die ihr auf ihrem täglichen Spaziergang durch den Park und über die Einkaufsstrasse begegneten, kannte Luise schon aus der ersten Klasse, als sie noch Deutsch, Mathematik und Physik lehrte. Es erstaunte und traf sie jedes Mal aufs Neue, wenn man ihr freundliches Nicken zwar höflich, aber sehr distanziert erwiderte. Luise war doch zu jedem nett. Das gehörte sich auch für eine gute Erziehung wie ihre, die sie unter den strengen Fittichen ihres Vaters erfahren hatte. Obwohl der ein unnachgiebiger Despot gewesen war, liebte Luise ihn und sprach monatelang kein unnötiges Wort mehr, als er – wieder mal sturztrunken nach einem gesellig zünftigen Herrenabend des „Belgischen Riesen“-Kaninchenvereins, dessen Vorstand Luises Vater war – auf dem nächtlichen Nachhauseweg die Orientierung verlor und kopfüber in Bauer Lüdermanns Jauchegrube plumpste. Und stillschweigend das Zeitliche segnete. Und das, obwohl der alte General a.D. immer auf einen guten Duft geachtet hatte.

Erst nach dem ebenso unglücklichen Tod ihrer Mutter dachte Luise immer wieder mal an ihren eigenen und hoffte, dass er von Würde sein würde. Sie war erstaunlich naiv und weltfremd für ihr Alter, aber nicht dumm. Jederzeit könnte sie “…der Schlag beim Scheißen treffen”, wie ihr recht einfach, aber direkt gestrickter Nachbar Herr Wannebeck immer von seinem Balkon brüllenderweise rüberzuwünschen pflegte, wenn sie telefonisch die Lautstärke seiner „Hottentottenmusik“ anmahnte. Luise konnte seine Rücksichtslosigkeit und seine rüden Beschimpfungen nicht verstehen und zog es ob der Unerträglichkeit solcher Dispute vor, zu schweigen und das Zimmer zu wechseln.

Da gab sich Luise in ihrem Ohrensessel lieber Abend für Abend den schönen Künsten hin, anstatt zu zanken oder an den Tod zu denken, las ein paar Zeilen von Rilke oder den Manns, lauschte wie immer ergriffen der Tragik Maria Callas’ oder sah sich einen alten Film mit Greta Garbo oder Katherine Hepburn an. Das war ihre ganz eigene und friedliche heile Welt. Hier hatte alles seine Ordnung.

Nein, eigentlich wundert es nicht, dass Luise in ihrem Viertel als verschrobene Jungfer galt. Überaus streng und korrekt gegenüber ihren Schülern und Kollegen in ihrem ehemaligen Beruf, selten ein Lächeln auf ihren schmalen Lippen und immer auf Haltung achtend, machte sie es niemandem leicht, sie vielleicht doch nett zu finden und ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Luise selbst kam gar nicht auf die Idee, dass es an ihr liegen könnte. Aus ihrer Sicht verhielt sie sich entsprechend ihrer Erziehung, und als Lehrerin war eine vernünftige Distanz zu ihren Schützlingen durchaus vonnöten. Sie fand es unpassend und störend für den Unterricht, wenn sie mit persönlichen Problemen eines der Kinder konfrontiert wurde und verbat sich freundlichst solche Annäherungen. Das hatte Luise sicher nicht böse gemeint, aber das war nun mal die Aufgabe der Eltern. Nicht ihre. Sie lehrte Deutsch, Mathe und Sachkunde.

Selbst die Bäckersfrau tauschte jedes Mal schlagartig ihr bezaubernd offenes Lächeln gegen ein eher höflich aufgesetztes ein, wenn Luise den Laden betrat, ein halbes Möhrenbrot und zwei Dinkelbrötchen bestellte, und dabei mit Argusaugen darauf achtete, dass die Verkäuferin beim Aussuchen der Backwaren auch Hygiene-Handschuhe trug. Man weiß ja nie. Und neben dem unangenehmen Herrn Wannebeck, der Frau Köster-Strelitz im Erdgeschoss und Paul Heinrichs, dem Postboten, der sich, wenn er nicht unbemerkt entkam, schon mal auf ein kleines Schwätzchen mit Luise einließ, traf sie sonst nie jemanden im Haus. Aber Luise war auch nicht neugierig, sondern froh, nach ihrer Pensionierung noch zurückgezogener leben zu können. Seit dem Tod ihrer Eltern fing sie an, endlich ein wenig aufzuleben. Auch wenn es für ihre Vorstellung von Anstand und Moral geradezu verwerflich vulgär daherkam, wenn sie sich hin und wieder mit Wein und Gesang in selige Zustände abschoss, Luise sehnte sich nach diesen Momenten des befreienden Glücklichseins. Manchmal wachte sie nach solch einer Eskapade mit hochgezogenem Rock auf und wünschte sich für einen Augenblick, ein Mann wie Heinz hätte begehrlich nach ihr getastet. Das kurz aufkommende Schauergefühl verschwand ebenso schnell wie Luises Gedanken an Heinz und seine wild blitzenden, eisblauen Augen, wenn er über ihr lag.

Gerade begann sich Luise mit ihren 36 Jahren in Heinz zu verlieben, als ihr der Posten der Rektorin angeboten wurde. Sie zögerte keine Sekunde und nahm die neue Aufgabe zwar mit der üblich steifen Contenance an, ließ sich aber bei Entgegennahme der Schlüssel und ersten Unterlagen bei einem huschend kurzen Lächeln ertappen. Weniger lächelnd und mehr als zögerlich teilte sie Heinz ihre Entscheidung mit. Den Umständen entsprechend wäre es für sie als Direktorin einer namhaften und straff geführten Grundschule nicht standesgemäß, mit einem Dachdecker liiert zu sein. Die Leute reden ja so schnell in einer kleinen Stadt wie dieser. Heinz blitzte Luise noch ein letztes Mal mit seinen eisblauen Augen an, ließ sie erstaunt in der Küche stehen und verschwand wortlos auf Nimmerwiedersehen. Luise befand, dass er keine gute Erziehung genossen zu haben schien, sie einfach so stehen zu lassen – und widmete die nächsten 30 Jahre ihres Lebens ausschließlich der Aufgabe, aus den Kindern gute Schüler zu machen.

Luise mit ihrem braunen, leicht welligen Haar, das sie immer streng nach hinten und zu einer Art Schnecke zusammenzubinden pflegte, den ewig wachsamen ebenfalls braunen Augen. Sie hatte schon ein feines, apartes Gesicht. Eine andere, weichere Frisur, etwas Farbe aufgetragen, nicht mehr diese steifen Hosenanzüge, sondern Röcke und andere Blusen: sicher wäre keine Schönheit aus ihr geworden. Aber ihr Erscheinen vielleicht fraulicher und weiblicher. Luise war aber mitnichten eitel und legte keinen besonderen Wert auf unnötiges und unbequemes Herausputzen. Ihr Faible für Rüschenblusen verschiedenster Farben und Schnitte war, bis auf das ausgiebige Baden bei Chopin, kühlendem weißen Wein und einem akkurat besteckten Käse-Igel mit Camembert und älterem Gouda, so ziemlich der einzige weibliche Luxus, den sie sich gestattete und konsequent zelebrierte. Ihre Blusen waren legendär. Legendär abschreckend. Aber das interessierte Luise nicht. Sie trug die Rüschen gerne und ihr gefiel es. Sie gönnte sich ja sonst nichts. Luise war nun mal Luise und ließ sich nicht reinreden.

Schon einige Jahre im Ruhestand und das Haar immer noch streng gebunden, aber nahezu schlohweiß, saß Luise wie so oft in letzter Zeit schon gegen 22:00 recht trunken in ihrem Ohrensessel und lauschte ausnahmsweise mal der leichten Unterhaltungsmusik. Wenn ihr nach einer gewissen Fröhlichkeit war, legte sie ihre Lieblingsschallplatte von James Last auf, die, auf der Herr Last die schönsten Lieder von der Gruppe Abba aufspielen lässt. Dann drehte sie die Kopfhörer auf und fing nach dem 5. Glas Weißwein an zu tanzen.

Es war einer der Abende, wie sie in den letzten ein, zwei Jahren häufiger vorkamen. Viel zu häufig. Luise konnte jetzt nicht genau sagen, ob sie unzufrieden oder sogar lebensmüde war. Das eher nicht. Vielleicht ein bisschen einsam. Manchmal dachte sie noch an Heinz. Aber auch er verblasste langsam wie das restliche Braun ihrer Haare. Aber Luise wollte sich auch keine Gedanken über Vergangenes, vielleicht Verpasstes machen. Sie war mit ihren 68 schließlich nicht mehr die Jüngste. Nein, sie machte sich keine unnötige Sorgen wegen des Alterns. Der Herrgott nimmt, wenn die Zeit gekommen ist. Sie war nur hin und wieder etwas bedrückt und traurig, dass sie wohl irgendwann alleine sterben würde. Keinen Gatten, keine eigenen Nachkommen. Die Verwandtschaft schon unter der Erde, Freunde hatte sie nie und Herr Wannebeck würde sicherlich nicht freundlicherweise ihre Hand halten, wenn der Herr Luise zu sich rief. Ihr wäre auch unwohl dabei.

Nein, Luise wollte ihren Winter so nehmen, wie er kommt.

Sie hatte ja ihre Abende.

An denen sie manchmal sogar tanzen konnte. Mit den drahtlosen Hörern in den Ohren. Wie an diesem Abend. Mit der Musik von James Last und Abba. Zur Feier des Abends hatte Luise noch eine dritte Flasche Wein geöffnet und schwebte torkelnd aber leichtfüßig zu den Klängen von „Fernando“ durch ihr Wohnzimmer. Von der Straße aus konnte man bei den vielen Kerzen, die sie angezündet hatte, durch die hohen Fenster ihren Schatten an den Wänden tanzen sehen.

Luise, die weintrunken und „Dancing Queen“ lallend fortwährend an den Fenstern vorbeihuschte, sah schon recht seltsam aus mit ihren steifen, unbeholfenen Tanzversuchen – aber sie war so etwas wie glücklich dabei. Als sie die Pirouette abrupt mit dem mächtig harten Aufschlagen ihres Kopfes auf die aus Kirschholz gefertigte Lehne des Ohrensessels von Großmutter Hildegard väterlicherseits beendete, nahm sie nicht nur das unerwartete, knackende Brechen ihres Genicks zur Kenntnis, nein, auch die unrühmliche Tatsache, sich gerade zum ersten und zugleich letzten Mal in den Schlüpfer gepullert zu haben, empfand sie nicht gerade als besonders würdevoll für ihr Ende. „Contenance, Luise, Contenance“, dachte Luise noch und starb, wie sie lebte.

Erstaunt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert